Der Notarztwagen fuhr auch an diesem Mittwoch in das Dorf. Beobachter im Ort haben ihn in dieser Woche bereits zuvor zweimal gesehen. Auch Selma Örlan, die auf dem Marienplatz einen mobilen Bäckerstand betrieb.
Beim alten Krause im Talweg 12 hat der Arzt gehalten. Montag und Dienstag war der Notarzt bald wieder abgefahren, ohne Blaulicht.
Heute jedoch kam ein Krankenwagen hinzu. Wenig später sah Selma noch die Rücklichter des zügig fahrenden Krankenwagens, mit Blaulicht.
Der alte Krause wohnte alleine, seit seine Frau vor zehn Jahren gestorben war. Krebs. Heimtückisch und schnell. Als die Chemotherapien nicht mehr wirkten, Bestrahlungen nicht mehr möglich waren, gab es nur noch Morphium.
Selma wusste von Gesprächen mit dem alten Krause, dass Marilyn, eine in Würde ergraute Stubenkatze, bei ihm lebte. Wer würde sich um sie kümmern, falls der alte Mann im Krankenhaus bleiben würde? Und danach sah es aus, dachte Selma.
Da kam bereits die nächste Kundin an den Stand und entschied sich für ein Roggenmischbrot und zwei Rosinenschnecken.
Im Talweg bereiteten sich die Anwohner auf das jährliche Herbstfest vor. Immer im September am zweiten Samstagabend wurde gefeiert, ein Getränkewagen wurde eigens bestellt, eine Musikanlage aufgebaut. Alle brachten etwas zu essen mit. Das Orga-Team sorgte dafür, dass nicht versehentlich fünf Kartoffel-, jedoch gar keine Nudelsalate mitgebracht wurden. In diesem Jahr war Ehepaar Trass an der Reihe, sie durften organisieren und die Teilnahmebeiträge kassieren. Stefan Trass hatte einen guten Draht zur Brauerei im Nachbarort, Miriam Trass plante sowieso gerne.
Der Bürgermeister sorgte für die Straßensperrung. Und da ohnehin alle mitfeierten, war auch die Musik nach 22 Uhr ausnahmsweise kein Problem.
Am frühen Freitagnachmittag steckten das Ehepaar Trass und der Bürgermeister die Köpfe zusammen und besprachen letzte Details für das Fest am nächsten Tag. Sie gingen die Anmeldeliste durch, nahezu alle Bewohner des Talwegs standen darauf, die meisten von ihnen hatten den Beitrag bereits vorab bezahlt. Einzelne gab es in jedem Jahr, die nicht teilnahmen. Weil sie in der Zeit in Urlaub waren oder aus anderen Gründen.
Miriam fiel auf, dass der alte Krause sich nicht angemeldet hatte. Sonst war er seit dem Tod seiner Frau immer dabei. Aber es war natürlich nicht Aufgabe des Organisationskomitees zu kontrollieren, warum sich jemand nicht für das Fest angemeldet hatte.
Oder vielleicht doch?
Nein, eigentliche Aufgabe war das sicher nicht. Aber das menschliche Miteinander im Dorf sprach dafür, einmal nachzusehen.
Miriam und Stefan gingen den Talweg entlang zu Haus Nr. 12. Auf ihr Klingeln wurde nicht geöffnet. Das kleine Auto stand ordentlich vor dem Haus abgestellt. Merkwürdig, denn er bewegte sich eigentlich nur mit seinem Wagen fort. Zu Fuß ging er sehr selten und ein Fahrrad besaß er gar nicht. Aus dem Briefkasten hing die neueste Ausgabe der Dorfzeitung heraus. Das war nicht besonders bemerkenswert, da sie stets freitags verteilt wurde. In etwa jedem dritten Briefkasten steckte ein nur flüchtig eingeschobenes Exemplar.
Miriam fragte Stefan, ob er die Telefonnummer vom alten Krause dabei hatte. In der Tat, Stefan hatte die Nummer gespeichert. Es klingelte lange, keine Reaktion. Einen Anrufbeantworter hatte der alte Krause nicht eingerichtet. Er meckerte immer, dass er sich dann darum auch noch kümmern müsste.
Miriam und Stefan sahen sich etwas ratlos an, als Selma Örlan mit ihrem Lieferwagen kam und bei ihnen anhielt. Sie fragte die beiden, ob sie wüssten, wer sich um Marilyn kümmern würde.
Am nächsten Tag war der alte Krause mit beim Herbstfest dabei, Marilyn auf dem Schoß. Ihm ging es relativ gut, er war in den letzten Tagen nur im Krankenhaus geblieben, weil die Ärztin meinte, er solle nicht den ganzen Tag alleine sein. Sicherheitshalber.
Selma Örlan bezog für ein paar Tage das Gästezimmer im Talweg 12. Das Haus war groß genug. Und Marilyn freundete sich sehr schnell mit Selma an. Und der alte Krause auch ein bisschen.