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Peter Baeumle-Courth

Gewonnen

 

Strahlende Sonne flutet an diesem Morgen durch die großen Fenster des Hauses in Bensberg. Felix Stern liebt seinen Beruf, er ist Lotto-Gewinn-Berater für den Bereich Köln rechtsrheinisch und Bergisches Land. Er bringt nicht das Geld in bar vorbei, sondern berät die Menschen, die bisweilen mit dem plötzlich etwas größeren Guthaben ein wenig überfordert sind. Zwar geht er nicht bereits bei drei Richtigen los, doch wenn die gewonnene Auszahlung die 100.000 Euro übersteigt, wird er von der Lotto-Zentrale informiert und besucht die zumeist glücklichen Gewinner zu Hause.

Felix sitzt an seinem Küchentisch und bereitet sich sein Butterbrot vor. Ein eher symbolischer Begriff, denn Butter verwendet Felix gar nicht, dafür eine feine Mirabellen-Marmelade, die, wie das Etikett anzeigt, aus dem Oberbergischen kommt. Felix findet es gut, wenn er Lebensmittel aus der näheren Umgebung bekommen kann.

An diesem Vormittag erhält Felix Stern neue Meldungen der Lotto-Zentrale für das von ihm betreute Gebiet. Wobei es immer wieder vorkommt, dass ein frisch gebackener Millionär zwar in Bergisch Gladbach seinen Schein ausgefüllt und abgegeben hat, jedoch in – zum Beispiel – Overath wohnt. Oder noch weiter entfernt.

 

Dr. Victoria Stettner lebt bereits seit einigen Jahren allein am Quirlsberg in einem Haus, das ihr seit dem Tod ihres Ehemanns eigentlich etwas zu groß ist. Zwar spielt sie regelmäßig Klavier und gelegentlich Lotto, sie hat jedoch keine festen Zahlen, die stets gespielt werden müssen. Und den Lotto-Zettel verlegt sie in der weitläufigen Wohnung ab und zu. Darum wundert sie sich sehr, als es an der Haustüre klingelt. Sie legt die Zeitschrift, in der sie gerade geblättert hat, auf den Tisch, erhebt sich von ihrem sehr gemütlichen Sofa und geht zur Tür. Auf dem Weg fällt ihr wieder ein, dass ein Herr Stern angerufen und seinen Besuch angekündigt hatte. Vor drei Tagen, aber das hat sie bereits wieder verdrängt. Es sind so viele Dinge, die sie die meiste Zeit beschäftigen.

Sie findet Herrn Stern auf Anhieb sympathisch, doch spürt sie in seinen Worten eine nüchterne Sachlichkeit. Victoria Stettner tut sich sehr schwer damit, Hilfe oder Ratschläge von Anderen anzunehmen, schließlich hat sie mit ihren 68 Jahren eine entsprechend große Lebenserfahrung. Und zudem einen Doktor-Titel. Dennoch nimmt sie, schon wegen der netten Gesprächsatmosphäre, die Anregungen des Glücks-Beraters zum Umgang mit dem Lotto-Gewinn aufmerksam zur Kenntnis und beabsichtigt, sich das ausgehändigte Merkblatt „Sechs Richtige – und nun?“ in einer konzentrierten Minute tatsächlich anzusehen.

Leider geht der eloquente Herr Stern bereits nach der zweiten Tasse Kaffee wieder. Victoria Stettner schließt die Tür hinter ihm, stellt sich ans Fenster und schaut durch die Gardine, wie er die Straße hinunter geht und aus ihrem Blickfeld verschwindet.

 

Felix hat Pause. Er blättert in einer etwas älteren Studie. Macht ein Lotto-Gewinn glücklich? Und wenn ja, wie viel Geld darf es dann sein. Die Studie stellt zu Felix’ Überraschung fest, dass bei etwa 100.000 Euro das Maximum des Glücks erreicht sei.

Er muss lächeln. Ja, vor einiger Zeit war er bei einer Frau, die mit ihrem recht hohen Lotto-Gewinn zunächst in den Supermarkt gehen und frische Pastete kaufen wollte. Sie meinte mit einem sehr zufriedenen Lächeln, dass sie von nun an keine in Plastikfolie abgepackte Wurst mehr in ihren Einkaufswagen legen würde. Wie einfach Glück sein kann.

 

Erich Tietz kann sich seit langer Zeit nicht mehr alleine anziehen, viele Bewegungen fallen ihm schwer. Deshalb kümmern sich verschiedene Frauen – und immerhin auch ein Mann – des Pflegedienstes Bergischer Sonnenschein um ihn. Nicht nur bei den notwendigen Verrichtungen, auch bei schönen Dingen wie dem Lotto-Spiel. Schon lange vor seinem Ruhestand hat er begonnen, jede Woche für die Samstags-Ziehung vier Reihen zu spielen. Immer dieselben Zahlen. Daher ist es ihm wichtig, keine Woche zu verpassen, denn es wäre unglaublich bitter, wenn seine Zahlen gezogen werden würden und er hätte gerade dieses eine Mal nicht gespielt. Beata Miłośna ist die treue Sonnenschein-Seele, die die kleine Zusatzaufgabe übernommen hat, die Lotto-Scheine in der Annahmestelle regelmäßig abzugeben.

Als Felix klingelt, erhebt sich Beata und öffnet die Türe. Sie kann sich denken, wer auf der anderen Seite steht, denn er hat sein Kommen telefonisch angekündigt. Mit einem warmen Lächeln öffnet Beata und bittet Felix herein, bietet ihm einen Platz auf dem Sofa und Kaffee – oder gerne auch Tee – an. Felix kann nicht anders, Beatas Herzlichkeit nimmt ihn gefangen. Er beobachtet, mit welch großer Wärme und Zuwendung sie sich um den alten Herrn kümmert, und muss sich einen Ruck geben, damit er konzentriert und in sachlichem Ton dem in seinem Rollstuhl sitzenden Herrn Tietz die Details der Abwicklung und insbesondere mögliche Konsequenzen des beachtlichen Lotto-Gewinns erläutern kann.

Wieder wird Felix an die Tür gebracht, dieses Mal fällt ihm jedoch der Abschied etwas schwerer. Beata hat ein sanftes Lächeln auf den Lippen, als sie ihm die Tür öffnet. Und ihm scheint, ihre Augen würden ein wenig strahlen. Vielleicht bildet er sich das auch nur ein, sagt er zu sich, und geht langsam in Richtung Bushaltestelle.

 

Felix sitzt in dem kleinen Café in der Laurentiusstraße, isst ein Bananenbrot mit Erdnussmus und denkt nach. Nebenbei sieht er auch in die Zeitung, sinniert über das Leben und das Glück. Im Oktober ist ihm der Begriff Herbstzeit-Lose eingefallen. Er schmunzelt über das Wortspiel. Solche Kleinigkeiten erfreuen ihn immer.

 

In einem modernen Bungalow in Kürten setzt sich Albert Rohdenbach gerade in seinen bequemen Ohrensessel und schlägt die Zeitung auf, als das Telefon klingelt. Der Lotto-Gewinn-Berater möchte einen Besuchstermin abstimmen. Dass ein ansehnlicher Gewinn auf ihn wartet, das hat Herr Rohdenbach bereits der Tageszeitung entnommen, in der er sich stets als Erstes die Ergebnisse der Ziehung der Lottozahlen ansieht. So vereinbart er mit Felix Stern für übermorgen einen Termin – und überlegt bereits, was er da wohl Neues erfahren würde.

 

Lena Schanz studiert an der Fachhochschule in Bergisch Gladbach im ersten Semester. Es ist eher untypisch, denkt Felix, dass junge Leute Lotto spielen. Aber gut, die Studentin hat gespielt und tatsächlich einen ordentlichen Gewinn erzielt. Bei dem Beratungsgespräch stellt sich heraus, dass sie sich natürlich über den plötzlichen Reichtum freut, doch trotz aller studentischen Feiern oft einsam fühlt. Diese Erkenntnis öffnet Felix das Herz, er fühlt mit der jungen Frau und nimmt sich etwas mehr Zeit für das Gespräch, als es sonst üblich ist.

 

Felix besucht in dieser Woche noch vier weitere Gewinner von ziemlich großen Beträgen. Manchmal wird er zunächst skeptisch, dann jedoch in der Regel bald vertrauensvoll aufgenommen. Der Kaffee-Konsum in einer intensiven Beratungswoche ist recht beachtlich.

 

Als Felix Stern den kleinen Supermarkt in der Fußgängerzone verlässt und nach links in Richtung S-Bahnhof geht, erkennt er ein ihm bekanntes Gesicht. Die Papiertüte mit dem großen roten ‚A‘ in ihrer Hand deutet darauf hin, dass Beata Miłośna in der Apotheke gewesen ist. Vielleicht hat sie Medikamente für Herrn Tietz besorgt. Felix lächelt. Er hält sich für zurückhaltend, möglicherweise sogar für etwas schüchtern. Doch jetzt schlägt sein Herz deutlich spürbar. Da sie direkt vor einem Café stehen, fragt Felix, ob sie Zeit für einen Kaffee habe. Als Beata antwortet, scheinen Ihre Augen wieder zu strahlen.

 

 

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(Diese Geschichte ist in der Anthologie „Schielendes Glück“ erschienen.)

 

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